Am 24. Februar befahl Russlands Präsident Wladimir Putin den Angriff auf das Nachbarland Ukraine. Seitdem sind Millionen Menschen auf der Flucht — auch nach Deutschland. Eine Welle der Hilfsbereitschaft ist angesichts des Krieges angerollt, auch viele IGBCE-Mitglieder bieten Unterstützung und ein Dach über dem Kopf für Vertriebene.
Die meisten Geflohenen aus der Ukraine kommen nur mit Notgepäck an.
Wenn Lyudmyla Volynets morgens aufwacht, greift sie als erstes zu ihrem Mobiltelefon und verschafft sich einen Überblick. Ob alles noch steht in Kiew und an den Orten, an denen ihre Angehörigen sich derzeit aufhalten, ob alle noch leben und es ihnen gut geht. Es sind Momente voller Anspannung, jeden Morgen seit dem 24. Februar, an dem ihre Cousine in aller Frühe anrief und ins Telefon schrie: »Es ist Krieg, Krieg.«
Es war der Tag, an dem die russische Armee das Nachbarland Ukraine angriff. Seitdem lebt die 39-Jährige in einem Zustand zwischen Hoffen und Bangen, denn große Teile ihrer Verwandtschaft sind immer noch in der Ukraine, überwiegend in direkter Nähe von umkämpften Gebieten: Ihre Mutter etwa harrt mit zwei Onkeln und Lyudmylas Bruder in einem Dorf bei Donezk aus, fliehen wollen sie nicht. Ihr zweiter Bruder und seine Familie sind aus Kiew zum Vater in eine Ortschaft außerhalb der Hauptstadt geflohen. Viele männliche Verwandte und Bekannte haben sich entweder freiwillig zum Militär oder bei der zivilen Verteidigung gemeldet. »Jederzeit kann eine Nachricht kommen, dass etwas passiert ist. Die Ungewissheit ist schrecklich«, sagt sie. »Ich telefoniere mehrmals täglich alle ab.«
Zu siebt statt zu zweit: Geflohene finden Zuflucht in Hannover
Die 39-Jährige stammt aus der Ukraine, aus der Nähe von Donezk. Sie selbst lebt seit mehr als 15 Jahren in Deutschland, im November vergangenen Jahres ist sie mit ihrem Mann nach Hannover gezogen, in eine hübsche, offene und geräumige Maisonette-Wohnung. Seit mehreren Wochen wohnt das Paar nicht mehr allein auf den knapp 100 Quadratmetern: Sie haben fünf Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufgenommen, ihre Cousinen Liesa (20) aus Kiew, Irina (37) und Olga (42) sowie deren zwei Söhne Alex (15) und Yarik (5) aus Irpin, das zuletzt heftig beschossen wurde. Direkt nach Kriegsausbruch sei für sie klar gewesen: »Sie sollen zu mir kommen.«
Hätte sie mehr Platz – Lyudmyla Volynets, die in der Hauptverwaltung der IGBCE als Fachsekretärin in der Abteilung Gute Arbeit und Betriebspolitik tätig ist, würde wohl noch mehr ihrer Verwandten und Bekannten aufnehmen. Schon für die aktuell fünf Gäste haben sie die Wohnung umgeräumt, damit jeder einen kleinen Platz für sich finden kann. Zwei Dutzend Angehörige und Bekannte mitsamt Kindern hat sie dennoch mittlerweile nach Deutschland gelotst und hier vorübergehend bei Kolleginnen und Kollegen, bei Bekannten und auch im IGBCE-Bildungszentrum in Bad Münder untergebracht. Tausende Kilometer ist sie in den vergangenen Wochen mit dem Auto he-rumgefahren, an die polnisch-ukrainische Grenze, nach Berlin, immer wieder, um »ihre« Leute abzuholen. Die Sorge treibt sie an, zugleich hilft es ihr, Dinge zu erledigen, zu tun – das lenkt sie ab und hält sie in Gang.
Und zu erledigen gibt es jetzt viel: Klamotten organisieren zum Beispiel, ihre Cousinen aus Irpin und die zwei Jungen hatten nichts dabei außer zwei Not-Rucksäcken mit Papieren, ein paar Lebensmitteln und warmen Jacken sowie eine Tasche mit Decken: Die zwei Frauen und die Jungen waren nach einem Angriff auf Irpin direkt aus dem Luftschutzkeller in ein Auto Richtung Westen gestiegen.
Sorgen um die Angehörigen in Kriegsgebieten
Die Hoffnung, irgendwann noch mal zurück in ihre alten Wohnungen gehen zu können, hat sich mittlerweile erledigt: »Unsere Wohnhäuser gibt es nicht mehr, alles ist weg, auch die Kindergärten und Schulen – alles ist zerstört«, berichtet die 42-Jährige Olga. »Es gibt nichts mehr, wohin wir zurückkönnen«, sagt sie unter Tränen. Ihr Sohn Alex steht in Kontakt zu seinen Freunden in der Heimat, sie schicken ihm regelmäßig Bilder der zerstörten Stadt, unter anderem von seiner zerbombten Schule.
Das Handy ist für die Vertriebenen die wichtigste Verbindung zu den Lieben in der alten Heimat, alle prüfen ständig ihre SMS- und Chat-Verläufe, die allgemeine Nachrichtenlage. Auch Liesa, die in Kiew studiert, hat das Smartphone ständig in der Hand: »Ich esse, schlafe und lese meine Nachrichten, das ist im Moment mein Alltag.« Sie sei enorm dankbar, dass sie die Möglichkeit hatte, nach Deutschland zu kommen und bei ihrer Cousine zu wohnen. Doch die Sorge um die Zurückgebliebenen – den Rest ihrer Familie, ihre Mitbewohnerin in Kiew, ihre männlichen Bekannten, die sich zum Militärdienst oder zur zivilen Verteidigung gemeldet haben – beschäftigt sie stark. »Ich weiß nicht, wann und ob ich meine Angehörigen und Freunde wiedersehen werde. Das macht mir am meisten Angst.«
Auch Olena Liung (45) hat es mit der Hilfe ihrer Freundin Lyudmyla nach Deutschland geschafft, sie wohnt derzeit mit ihrer Mutter Lyuba Ibraieva (65) bei einem IGBCE-Kollegen. »Es ist eine schreckliche Situation, ich habe mein Land und meine Gewerkschaft verlassen. Ich weiß nicht, was nächste Woche oder nächsten Monat ist«, sagt Liung, Assistentin eines ukrainischen Gewerkschaftsvorsitzenden. Ihre Arbeit kann sie derzeit nicht ausüben, fast alle Unternehmen haben ihre Tätigkeit eingestellt. Sie versucht nun, ihre Kollegen, die sich zur Landesverteidigung gemeldet haben, aus der Ferne zu unterstützen. »Viele Frauen und Kinder sind geflohen, viele haben ihr Zuhause verloren. Aber ich weiß, die Ukrainer werden nicht aufgeben.« Die beiden Frauen sind nur mit dem Nötigsten nach Deutschland geflohen, sie sind enorm dankbar für die Gastfreundschaft des IGBCE-Kollegen. »Es geht uns dort sehr gut, unsere Gastgeber kümmern sich rührend um uns«, erklärt Lyuba Ibraieva.
Zukunftsplanung für Deutschland angehen
Um sich gegenseitig besser zu verstehen, haben sie im ganzen Haus Klebezettel verteilt, auf denen die Bezeichnungen der Gegenstände auf Deutsch, Englisch und Ukrainisch stehen. »Tisch, Stuhl, Regal«, sagt die 65-Jährige mit einem frohen Lächeln und zeigt auf die entsprechenden Möbel.
Die Sprache ist – gleich nach den Behördengängen für die korrekte Anmeldung – eine der nächsten Baustellen für Lyudmyla Volynets: Wie lernen die Geflüchteten jetzt möglichst schnell Deutsch, um sich selbst verständigen zu können? Bis die offiziellen Kurse beginnen, kann es dauern. Für »ihre« Leute organisiert sie nun privat Unterricht für »Überlebensdeutsch«. Klar ist: Kaum jemand wird innerhalb kurzer Zeit wieder zurück in die Ukraine können, die Vertriebenen müssen sich notgedrungen länger in Deutschland einrichten. Wohnungen brauchen die 21 Leute perspektivisch, die Geflüchteten können nicht für Monate bei ihren Gastgebern bleiben. Der 15-jährige Alex muss in einer Schule, der fünfjährige Yarik in einem Kindergarten untergebracht werden. Eine Zukunftsplanung für Deutschland müssen sie bald angehen. Auch wenn die Frauen das eigentlich nicht möchten: »Wir wollen alle so schnell wie möglich wieder zurück in die Ukraine«, sagen sie unisono.
Immerhin – alle haben derzeit ein Dach über dem Kopf. »Das verschafft uns ein paar Wochen Luft«, sagt Lyudmyla Volynets. »Dann brauchen wir tragfähigere Lösungen.« Sie hebt hervor, wie groß Unterstützung durch ihre Kolleg*innen und die IGBCE in den vergangenen Wochen war, viele helfen mit Spenden, andere bieten Unterbringungsmöglichkeiten, sie hat volle Rückendeckung ihrer Vorgesetzten für ihr Engagement. Und sie hilft gern. Aber, so sagt sie: »Wir müssen es schaffen, dass die Geflüchteten so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen können.«
Spendenkonto:
Gewerkschaften helfen e.V.
IBAN: DE40 2505 0000 0151 8167 90
BIC: NOLADE2HXXX
Stichwort: Gewerkschaftliche Ukraine-Hilfe